Einer der geistigen Väter der Siegerländer Kunstturnvereinigung

Jürgen Uhr wird 80

Am 27.7.2020 vollendete Jürgen Uhr sein 80. Lebensjahr. Ehre wem Ehre gebührt – und so wollen wir diesen festlichen Tag zum Anlass nehmen, einige Stationen aus dem Leben des Jubilars zu beschreiben, den der Westfälische Turnerbund in der jüngsten Ausgabe seiner Verbandszeitschrift „Westfalenturner“ völlig zu recht als „Turnlegende“ bezeichnet hat.

Jürgen Uhr war einer der geistigen Väter der Siegerländer Kunstturnvereinigung, Gründungsmitglied und Förderer. Jürgen Uhr stammt aus einer Bergmannsfamilie in Salchendorf – heute ein Ortsteil von Neunkirchen – als jüngster von drei Brüdern und drei Schwestern. Schon im Kindesalter zog es ihn in den örtlichen Turnverein im TV Salchendorf gab es wie in fast allen Turnvereinen in den 50-er Jahren eine Turnriege, und natürlich auch Kinder- und Jugendturnen an den Geräten.

juergen_uhr

Mit dem Abschluss einer kaufmännischen Lehre bei der Firma Schäfer verließ Jürgen den Freien Grund für ein paar Jahre – er zog nach Goslar und schloss sich dem dortigen Turnverein an, in dem kein Geringerer als Alfred Schwarzmann Turnlehrer war. Alfred Schwarzmann war bei den Olympischen Turnwettbewerben 1936 in Berlin mit drei Gold- und zwei Bronzemedaillen erfolgreichster deutscher Turner, und was vielleicht noch höher einzuschätzen ist, errang 1952 in Helsinki im Alter von 40 Jahren die Silbermedaille am Reck. Er wurde anschließend zum „Turner des Jahrhunderts“ in Deutschland gewählt.

Alfred Schwarzmann prägte sicher die turnerische Ausbildung von Jürgen entscheidend, seine größten Erfolge als Einzelsportler hatte er jedoch, als er sich nach seiner Rückkehr in das Siegerland dem TV Niederschelden anschloss. Auch hier fand er einen herausragenden Turnlehrer: Horst Gaumann, 1958 Hauptsieger des Deutschen Turnfestes in München im Zwölfkampf (Gerätturnen und Leichtathletik) und mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet, betreute mit großen Erfolg eine namhafte Turnriege in Niederschelden.

juergen_uhrAm Reck 1962

Für Horst Gaumann war eine gute athletische Grundausbildung die Voraussetzung für den Erfolg auch als Kunstturner – so wurde auch Jürgen ein „Mehrkämpfer“, und selbst die Nationalmannschaftsturner Lothar Simon und Werner Narres, die auch von Horst Gaumann trainiert wurden, nahmen an Mehrkämpfen teil.

Beinahe hätte Jürgen es geschafft, es beim Deutschen Turnfest 1963 in Essen seinem Lehrer und Vorbild Horst Gaumann gleich zu tun, und ebenfalls durch den Gewinn des Mehrkampfes (es gab nur noch einen 10 Kampf mit 5 Geräteübungen und 5 leichtathletischen Disziplinen) Hauptsieger des Turnfestes zu werden, er wurde aber nur um wenige Zehntel geschlagen Zweiter. Auch in den Folgejahren belegte er regelmäßig vordere Plätze bei den Deutschen Meisterschaften im Mehrkampf, nicht zuletzt auch deshalb, weil er ein sehr guter Leichtathlet war, mit einer Weitsprungbestleistung von knapp 7 Metern, um nur einmal ein Beispiel zu nennen.

Aber auch im Kunstturnen war Jürgen sehr erfolgreich. Er gehörte viele Jahre der Westfalenriege an, und war Mitglied der Startgemeinschaft Siegerländer Turner, die für den TV Eichen einen Platz in der neu geschaffenen Kunstturnbundesliga erkämpfen konnten.

juergen_uhrJürgen Uhr (re), Mitglied der ersten Siegerländer Bundesligamannschaft

Das war 1968, die erste Bundesligasaison wurde 1969 ausgetragen. Da hatte sich im Leben von Jürgen außerhalb des Sports schon sehr viel geändert. Er hatte – zusammen mit anderen Siegerländer Turnern wie u.a. Lothar Simon und Paul-Günter Hoffmann aus Kreuztal – in Saarbrücken eine Sportlehrerausbildung absolviert und war Sportlehrer am Städtischen Jungengymnasium geworden. Dort gründete er auch eine Turn-AG, die im Schulsport in Westfalen sehr erfolgreich war.

Und ebenso wichtig: er hatte mit dem „Scheldener Mädchen“ Inge Hees die Frau für das Leben gefunden, geheiratet und beide waren glückliche Eltern von drei Söhnen geworden.

Nach dem Abstieg aus der Bundesliga gingen die älteren der Turner, die nicht aus Eichen stammten, wieder in ihre Heimatvereine zurück. Jürgen stellte aus seinen Nachwuchsturnern des TV Salchendorf, u.a. den drei Brüdern Eckhardt aus Eisern, den Salchendorfern Jürgen Krentscher und Richard Judt, ihm selbst und Lothar Simon eine schlagkräftige Mannschaft zusammen, die in der Landesliga Westfalen antrat. Später kamen noch der Koblenzer Fritz Kempf, der zusammen mit Jürgen und Lothar die Sportlehrerausbildung in Saarbrücken absolviert hatte, hinzu, und die Brüder Karl-Ludwig und Klaus Weller aus Herdorf. Diese Mannschaft machte für einige Jahre Furore im Ligaturnen im Westfälischen Turnerbund.

Mitte der siebziger Jahre wechselte Jürgen dann an das neu gegründete Gymnasium in Neunkirchen und sorgte dafür, dass bei dessen Neubau neben einer Dreifachsporthalle auch eine im Untergeschoss gelegene Geräteturnhalle eingeplant wurde. Diese war fortan die Keimzelle für die Nachwuchsarbeit im Kunstturnen im Freien Grund. Neben zahlreichen Teilnahmen und einigen Siegen im Bundesfinale des Wettbewerbs „Jugend trainiert für Olympia“ wurden aber auch Talente gefördert, die im Kunstturnzentrum in Dreis-Tiefenbach trainieren konnten. Wolfgang Tittel, einer der Turnschüler von Jürgen, wurde von Horst Diehl bis in die Deutsche Jugendnationalmannschaft gebracht.

Jürgen war aber nicht nur Lehrer, er beherzigte die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens auch für sich selbst. An der Universität Siegen studierte er neben all seinen anderen Verpflichtungen Biologie (Abschlussarbeit: Raubvögel im Siegerland) mit erfolgreichem Abschluss, um ein zweites Fach im Schuldienst vorweisen zu können.

Natürlich wurden auch die Fachverbände auf seine Fähigkeiten aufmerksam. So übernahm Jürgen zahlreiche Funktionen nicht nur in seinem Heimatverein TV Salchendorf, sondern auch auf Verbandsebene. Er war Kunstturnwart im Siegerland Turngau und im Westfälischen Turnerbund, und im Bundesfachausschuss des Deutschen Turnerbundes für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. In dieser Funktion begleitete er die deutschen Turner auch bei zahlreichen Welt- und Europameisterschaften, was ihn in alle Kontinente führte. Auch im Siegerland Turngau war Jürgen zum Abschluss seiner langen Funktionärslaufbahn einige Jahre lang zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit.

Pressearbeit und die dafür notwendigen handwerklichen Fähigkeiten wie Schreiben und Fotografieren sind neben dem Turnen die zweite Leidenschaft von Jürgen. Als sich das einzige im deutschsprachigen Raum erscheinende Fachmagazin für die Olympischen Turnsportarten „Olympisches Turnen Aktuell“ – kurz OTA – in Schwierigkeiten befand, wurde er dessen Verleger und Chefredakteur, bis das Magazin als „Leon“ von anderen fortgeführt werden konnte. Zählbares Resultat der Leidenschaft zum Fotografieren: 220.000 Fotos (kein Schreibfehler), größtenteils im eigenen Labor zu Hause entwickelt, archiviert und später digitalisiert. Ebenso bemerkenswert ist das Turnarchiv, welches er teilweise von anderen „Turnverrückten“ übernommen hatte, teilweise selbst erstellt hat. Zuletzt umfasste es etwa 120 DIN-A4-Order und wurde von Jürgen an ein Institut in Berlin übergeben, damit diese einzigartige Dokumentation fast aller Turnwettkämpfe in Deutschland in den letzten 100 Jahren nicht verloren geht.

Jürgen erstellte auch zahlreiche Chroniken – u.a. für den Siegerland Turngau zu dessen 125-jährigen Jubiläum, 100 Jahre Gillerbergfest und kürzlich auch für den Heimatverein Salchendorf, anläßlich der 700-Jahr-Feier seines Heimatortes im Jahr 2016.

juergen_uhrJürgen Uhr und der Olympiasieger Miroslav Cerar

Besonders hervorzuheben ist auch sein Buch „Mondsalto“, in dem er zusammen mit dem Herausgeber des Turnmagazins „Leon“ die Turner präsentiert, die mit ihren Erfindungen in die Annalen und die Wertungsvorschriften des Kunstturnens eingegangen sind. Dieses Buch konnte er 2014 bei einer Festveranstaltung des Deutschen Olympischen Museums in Köln dem Olympiasieger und vielfachen Weltmeister Miroslav Cerar (Slowenien) überreichen.

Jürgen ist ein Mensch, der sich auch von Rückschlägen nicht entmutigen lässt. So zum Beispiel Mitte der 2000-er Jahre, als er als langjähriger Vorsitzender des TV Salchendorf ein Konzept zur Fusion der drei Neunkirchener Turnvereine – neben seinem Heimatverein noch der TV Neunkirchen und der TV Struthütten – entworfen und bis ins Detail umsetzungsfähig ausgearbeitet hatte. Während die beiden anderen Vereine zustimmten, lehnten ausgerechnet die Salchendorfer dies ab. Späte Genugtuung für Jürgen: 2016 wurde ein neuer Anlauf initiiert, auf der Grundlage seines damaligen Konzeptes, und aus den beiden Vereinen TV Neunkirchen und TV Salchendorf entstand mit dem VTV Neunkirchen der größte Turnverein im Siegerland, der sich seitdem prächtig weiter entwickelt hat.

Diese im Sport gelernte Einstellung des „Never give up“ kann man auch bei Jürgen persönlich sehen. Trotz zweier künstlicher Kniegelenke ist er immer noch ein begeisterter Skifahrer (alpin natürlich, nordisch ist etwas für alte Leute), und wenn es eine entsprechende Aufzeichnung gäbe, wäre er mit 2.40 Metern sicher der Deutsche Rekordhalter im Standweitsprung mit zwei künstlichen Kniegelenken, oder hat ihm sein ehemalige Turnschüler Rainer Eckhardt, der die Operationen durchgeführt hat, doch Sprungfedern eingebaut, wie es seine Altersgenossen bei den Leichtathletikwettbewerben des Siegerland Turngaues, an denen Jürgen immer noch teilnimmt, vermuten?

Trotz aller Leidenschaft für das Kunstturnen – Jürgen hatte auch immer einen Blick für andere Sportarten. Zum Beispiel Volleyball – erst als aktiver Spieler in der Lehrersportgemeinschaft Siegerland, dann vor allem als Funktionär seines Heimatvereins TV Salchendorf. Er gründete eine Volleyballabteilung – in einem Turnverein zu der damaligen Zeit durchaus ein gewagtes Projekt, gab es doch andere „Turnspiele“ – die sich prächtig entwickelte und heute im VTV Freier Grund zu den mitglieder- und leistungsstärksten Abteilungen geworden ist. Die Damenmannschaft stieg in diesem Sommer in die Regionalliga auf.

Wir jedenfalls bedanken uns bei Jürgen, für alles was er für die SKV im Laufe der nun beinahe 50 Jahre seit ihrer Gründung gegeben hat, nicht nur für die vielen schönen Fotos von ungezählten Bundesligawettkämpfen, sondern auch die konstruktiven Ideen zu der Entwicklung unseres Vereins. Wir wünschen ihm viel Gesundheit und dass er noch viele Jahre im Kreise seiner Familie das Turngeschehen im Siegerland mit Freude begleiten möge.